Immer mehr – über Glück und Konsum
Wie lange hast du dich über dein zuletzt gekauftes Kleidungsstück gefreut? Wie lange hat das Glücksgefühl über deinen letzten Ausflug angehalten? Kannst du dich noch daran erinnern?
Dass positive Erlebnisse kaum Spuren in unserem Gedächtnis hinterlassen, hat auch damit zu tun, dass wir genetisch darauf ausgelegt sind, stärker auf Gefahren und Fehler zu achten, um unser Überleben zu sichern. Könnte es aber neben unseren genetischen Anlagen auch daran liegen, dass wir selten innehalten und Momente der Freude und des Geniessens deshalb oft auch einfach unbemerkt an uns vorbeiziehen?
Weil wir auch in der Freizeit damit beschäftigt sind daran zu denken, dass wir dieses eine Paar Schuhe, diese hübschen Teller oder die Sonnenbrille, die farblich so gut zu unserem Leinenshirt passt und die endlich die alte mit den Kratzern ersetzen würde, zu bestellen? Oder den nächsten Urlaub nach Sri Lanka zu planen, von dem die eine Freundin so geschwärmt hat? Oder uns jetzt endlich Zeit freizuschaufeln, für ein Hobby, bei dem wir mal wieder etwas Neues lernen oder für regelmässigen Sport, um uns dann endlich so gut zu fühlen, wie es uns von allen Seiten versprochen wird?
Wir kommen aus dem Tun nicht heraus, haben aber nicht mehr das Gefühl, dass das, was wir tun, zu einem gelingenden Leben beiträgt.
Woher kommt es, dass sich unsere Liste mit Aufgaben und Wünschen, die zu erledigen oder erreichen uns glücklich machen soll, immer weiter verlängert?
Der Soziologe Hartmut Rosa[1] erklärt dieses unentwegte Machen damit, dass wir immer mehr Erwartungen an uns haben, die wir für legitim halten. Sport machen, um gesünder zu leben, zu reisen, um den Horizont zu erweitern, die neuen Teller zu kaufen, damit der Tisch für den Brunch hübsch gedeckt ist, eine Weiterbildung zu absolvieren, obwohl der Tag schon voll ist. Ihr ahnt es, die Liste liesse sich innert Kürze mühelos erweitern. Dass wir uns im Alltag oft gestresst fühlen, rührt Rosas Meinung nach daher, dass wir keinen Sinn in den Dingen sehen, die wir uns zu tun auftragen. Er nennt das den «rasenden Stillstand»: Wir kommen aus dem Tun nicht heraus, haben aber nicht mehr das Gefühl, dass das, was wir tun, zu einem gelingenden Leben beiträgt, zu einer besseren Zukunft für uns und künftige Generationen.
Wenn wir unsere Liste mit Aufgaben, Wünschen und Zielen ganz ehrlich betrachten, fällt uns auf, dass sich sehr viel um Konsum dreht. Da dürfte es doch gar nicht so schwierig sein, mal innezuhalten und nichts zu konsumieren, oder?
Wir alle sind eingebunden in eine kleinere oder grössere Gemeinschaft, Teil einer Gesellschaft, der wir uns kaum entziehen können. Was diese Gesellschaft ausmacht, bestimmt, wonach wir uns richten, weil wir Teil der Gemeinschaft sind und bleiben möchten. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist nach Hartmut Rosas Definition eine Gesellschaft der Steigerung. Er nennt das «dynamische Stabilisierung» und meint damit, dass eine moderne Gesellschaft auf Wachstum, Beschleunigung und Innovation angewiesen ist, um sich in ihrer Struktur – dazu gehören zum Beispiel Arbeitsplätze, das Gesundheitssystem, das Rentensystem, Bildungs- und Kulturinstitutionen – zu erhalten. Dieses System der unentwegten Steigerung, die zu mehr Wissen und Wohlstand geführt hat, wird dann problematisch, wenn wir das Gefühl haben, dass wir zum Beispiel schon genug Kleidung in unseren Schränken hängen haben oder dass schon genug Autos auf den Strassen herumfahren und trotzdem jedes Jahr mehr produziert und verkauft werden muss. Wir können uns dem «immer mehr» nicht entziehen, wir rennen bei diesem Wettlauf mit, obwohl er uns erschöpft und unglücklich macht, aus Angst, den Anschluss und damit unseren Platz in der Gesellschaft zu verlieren, wenn wir es nicht tun.
Soziale Medien verkürzen unsere Aufmerksamkeitsspanne stark und diese beschleunigte Wahrnehmung ist einer der Hauptgründe, warum wir das Bedürfnis haben, uns immer wieder neu zu erfinden.
Nehmen wir das Beispiel der Modeindustrie. Der Fast Fashion Gigant Zara produziert pro Jahr etwa 10'000 verschiedene Modeartikel. Auf die Webseite des Instant[2] Fashion Giganten Shein werden alle zwei Tage 10'000 neue Modelle hochgeladen.[3] Diese schier unvorstellbare Anzahl Artikel, die fleissig auf Social Media vermarktet wird, entspricht kaum unseren Wünschen und Bedürfnissen. Auch wissen wir, wie schädlich diese Massenproduktionen für unseren Planeten sind. Und auch wenn wir nicht unbedingt Fast Fashion kaufen oder auf Social Media unterwegs sind, wirken sich Trends, die dort entstehen, früher oder später auf uns alle aus.
Die Umweltwissenschaftlerin, Influencerin und Mode- und Umweltaktivistin Kiki Boreel aus den Niederlanden, spricht zum Beispiel von einem ständig erneuerten Bedürfnis nach Neuem, das die sozialen Medien fördern und in die breite Gesellschaft hinaustragen. Denken wir kurz an das Beispiel der Freundin zurück, die von ihren Ferien in Sri Lanka schwärmt. Du musst nicht auf Social Media unterwegs sein, um das Gefühl zu haben, dass es vielleicht doch nicht reicht, wenn du jedes Jahr mit dem Zug in dieselbe Pension an der Adria fährst.
Für Kiki Boreel, die berufshalber viele Stunden auf Social Media verbringt, ist klar, dass die sozialen Medien unsere Aufmerksamkeitsspanne dramatisch verkürzen und diese beschleunigte Wahrnehmung einer der Hauptgründe ist, warum wir das Bedürfnis haben, uns immer wieder neu zu erfinden und deshalb immer wieder Neues zu konsumieren. Die ständigen Vergleiche tun ihr Übriges. Das Marketing der Modeindustrie zum Beispiel spielt systematisch mit unseren Wünschen und bringt uns dazu, regelmässig zu konsumieren, um uns als Teil einer Gruppe, also zugehörig zu fühlen.[4]
Zufriedenheit erreichen wir, wenn wir an einer Zukunft mitgestalten, die verspricht, besser zu sein als die Gegenwart.
Wie können wir als soziale Wesen Sinnhaftigkeit finden und uns nicht in all den Dingen verlieren, die wir (noch) nicht besitzen und (noch) nicht erreicht haben?
Lebenszufriedenheit erreichen wir, so Hartmut Rosas Theorie, nicht durch Besitz, sondern dann, wenn wir an einer Zukunft mitgestalten, die verspricht, besser zu sein als die Gegenwart. Wir sind zufrieden, wenn wir sehen, dass das, was wir jetzt arbeiten und leisten, zu den positiven Entwicklungen beiträgt, die unsere Zukunft und jene der zukünftigen Generationen besser macht. Rosa beschreibt diesen Zustand mit dem Konzept der Resonanz, dem Gefühl des Verbundenseins mit dem, was war und mit dem, was sein wird.
In Verbindung treten wir dann, wenn wir nicht in ein Verhältnis der Ausbeutung oder der Konkurrenz zu uns selbst, anderen und auch der Natur treten. Also, wenn es uns nicht vordergründig darum geht zu konsumieren, zu optimieren, verfügbar zu machen oder beherrschen zu wollen, sondern dann, wenn uns etwas berührt und wir es verstehen möchten und dann möglicherweise etwas daraus machen oder daran mitwirken können. Das sind nach Hartmut Rosa die Momente, in denen wir uns lebendig fühlen, in denen sich etwas in uns verändert, weil wir verstehen und uns verbunden fühlen.
Für ein Gefühl von Resonanz müssen wir nicht allem Konsum abschwören.
Resonanzmomente können jederzeit, aber immer unverhofft auftreten, selbst während des Konsums. Bei einem Sportereignis etwa, während der Eurovision-Liveshow, beim Brunch mit Freunden, beim Lesen eines Buches, beim Hören eines Podcast, beim Spazieren im Wald, auf Safari in Sri Lanka. Entscheidend ist, dass wir nicht auf alles blicken, als wäre es eine Aufgabe, die es abzuhaken gilt, auf dem Weg zu unserer vierten Fremdsprache, der gehypten Handtasche, der Beförderung oder des Aktiendepots.
Um in Resonanz treten zu können, müssen wir also nicht jeglicher Form von Konsum abschwören. Das gilt auch für Kleidung, die immer auch Handwerk und Teil der eigenen Identität ist. «Die Menschen wollen zeigen, wer sie sind», ist sich Kiki Boreel sicher. Das ist es, was sie an der Mode fasziniert und sie als Model motiviert: «Es geht um Handwerk, Identität und Kreativität. Ich denke, das ist etwas, mit dem wir auf jeden Fall experimentieren dürfen. Jeder sollte die Freiheit haben, auszuprobieren, wie er sich der Welt zeigen will.» Kiki Boreel hat sich dafür entschieden, Menschen auf Social Media über die problematischen Seiten der Modeindustrie aufzuklären, ihre Leidenschaft für Mode auszuleben und jedes Jahr nur fünf neue Kleidungsstücke zu kaufen, um mit ihrem Verbrauch innerhalb der planetarischen Grenzen zu bleiben. Das ist ihr persönlicher Weg zu einem sinnhaften Leben, ihre Art an einer Zukunft mitzugestalten, die positive Entwicklungen – auch in der Modeindustrie – bereithalten kann.
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